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Pflanzen gegen das Vergessen

Einen sehr aktiven, bewegten und bewegenden Unterricht erlebten zwei Kunstkurse der 12. Klassen am Donnerstag, dem 15.12.2022. Per Moodle wurde ihnen angekündigt, sie mögen sich warm anziehen und sich vorpünktlich im Kunstraum einfinden. Sie erfuhren, dass der Kunstunterricht an diesem Tag in der Gedenkstätte Lichtenburg in Prettin stattfände und konnten eine kurze inhaltliche Einführung und Erklärung lesen. Während der etwa fünfzehnminütigen Busfahrt erhielten die Lernenden weitere Informationen: Das Kursthema des 4. Kurshalbjahres lautet „Präsentation von Kunst im öffentlichen Raum“. Dazu gehören mit an erster Stelle Denk- und Mahnmale. Die Gedenkstätte Lichtenburg befindet sich in der Nähe des
Gymnasiums Jessen. In diesem Gesamtdenkmal sind mehrere Einzeldenk- und -mahnmale zu finden, und zwischen der Gedenkstätte und unserem Gymnasium besteht ein Kooperationsvertrag. Die letztjährigen Kunstkurse der 12. Klasse hatten begonnen, sich mit der Denkmalsgestaltung der Lichtenburg auseinanderzusetzen und Ideen für weitere Gestaltungen und künstlerische Gedenkaktionen innerhalb des
Projektes „Kreativpotentiale – Starke Frauen in der Lichtenburg“ zu entwickeln, konnten jedoch ihre Ideen nicht mehr umsetzen. Hier führen die Kurse 12kun1 und 12kun2 diesen Jahres Geplantes und Gedachtes weiter. Eines der Konzepte beinhaltete eine temporäre Pflanzaktion auf dem ehemaligen Appellplatz. Dieser
liegt als Innenhof zwischen den Gebäudetrakten. Dort mussten die Häftlinge täglich, auch bei solchen Temperaturen wie am 15. Dezember 2022 und ohne ausreichend Winterkleidung – z.T. stundenlang still zum „Zählappell“ stehen. Der Platz und somit auch die Häftlinge, die dort antreten mussten, war ungeschützt, der Wind wehte darüber, im Sommer brannte die Sonne. Am Gebäude gegenüber dem heutigen neu errichteten Gedenkstättengebäude saß oder stand auf einem Erker im ersten Obergeschoss ein Maschinengewehrschütze, der Schießbefehl hatte, u.a. auch, wenn sich jemand hätte von dem ihm zugewiesenen Platz entfernen wollen. Dieser menschenunwürdige kahle Hof sollte am 15.12.2022 symbolisch mit Hoffnung auf Leben erfüllt werden. Die Schüler*innen pflanzten Bäume und Sträucher in
große Töpfe, steckten Frühblüherzwiebeln und verteilten die über das Projekt „Kreativpotentiale“ finanzierten Apfelbäume, Weiden, Weißdornbüsche, Maulbeerbäume, einen Sanddorn und einen Purpur-Hartriegel in ihren neuen Pflanzgefäßen auf diesem Platz so, dass sie der Anordnung von Häftlingsreihen ähneln. In alle Töpfe wurden Frühblüherzwiebeln gesteckt. Die Bäume und Sträucher sind jetzt im Winter kahl, es gibt aber die berechtigte Hoffnung, dass sie wieder austreiben, grün werden, im Sommer Schatten spenden, wachsen, blühen und vielleicht älter werden als wir. An diesem Ort in der Lichtenburg doppelt wichtig: Mit ihnen soll der damals Inhaftierten gedacht werden. Sie sollen dort aber nicht für immer bleiben, sondern im Frühjahr oder Herbst des nächsten Jahres umgepflanzt werden, in die Freiheit. Was wären geeignete Orte? Wohnorte der Inhaftierten vor ihrer Verhaftung? Orte, an denen die Häftlinge der Lichtenburg arbeiten mussten? Orte, an denen Überlebende ein neues Zuhause finden konnten? Orte der letzten Ruhestätte von Ermordeten? Auch darüber soll nachgedacht werden und es gilt, weitere Ideen zu entwickeln und sie umzusetzen. Nach der Pflanzaktion lasen und besprachen die Schüler*innen in der Gedenkstätte Zitate von in der Lichtenburg
inhaftierten Frauen und ordneten die einlaminierten Kurztexte an den Bäumen an.
Am Gedenktag für die Opfer des Faschismus, dem 27. Januar, der jährlich an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Truppen der Roten Armee erinnert, blühte bereits die Weide und die Frühblüher streckten erste zarte Blätter aus der Erde. Zeichen des Lebens, Zeichen der Hoffnung.